jiddische Literatur

jiddische Literatur
jịddische Literatur,
 
die Literatur in jiddischer Sprache, durchweg in hebräischer Schrift aufgezeichnet.
 
 Ältere jiddische Literatur
 
Nach äußerst spärlichen Frühzeugnissen setzte die dezimierte Überlieferung mit der auf 1382/83 datierten, bei Kairo gefundenen Cambridger Handschrift ein, die vielleicht das Repertoirebuch eines Vortragenden war. Die Textsammlung zeigt bereits die auch für die jiddische Sprache kennzeichnende Verschmelzung jüdischer und außerjüd. Traditionskomponenten. Hörer (Leser) dieser Literatur waren v. a. Juden ohne ausreichende sprachliche Voraussetzungen für den Umgang mit der herkömmlichen hebräischen Bildungsliteratur (besonders Frauen). In Stoff, Form und Stil berühren sich Dukus Horant (aus dem Umkreis der »Kudrun«), »Hildebrant«, »Sigenot« und die mittelhochdeutsche Heldenepik, während die zum Teil ähnlichen, vorzugsweise in der Strophe des Hildebrandstons abgefassten Epen des 15./16. Jahrhunderts wie »Schmuelbuch« (Geschichte Davids, Erstdruck Augsburg 1544), »Melochimbuch« (Salomo und Nachfolger, Erstdruck Augsburg 1543), mehrere »Esther«-Versionen oder »Doniel« (Basel 1557) auf nachbiblischen hebräischen Quellen (Midraschim) beruhen. Gleichzeitig wurden Elemente des höfischen Romans im »Widuwilt« (auch »Kenig Artus hof«) rezipiert, dem im 16. Jahrhundert E. Levitas Ritterromane »Bowe Dantona« oder »Bowebuch« (Isny 1541) und »Paris un Wiene« (Verona 1594), beide in Stanzenform wie eine der Bearbeitungen des »Artushofes«, folgten. Das noch im 15. Jahrhundert aus dem Hebräischen übersetzte »Ssefer ben ha-melech weha-nosir« (»Prinz und Derwisch«, die orientalische Variante von »Barlaam und Josaphat«) zeigt sich demgegenüber von keiner der immerhin drei mittelhochdeutschen Bearbeitungen des gleichen Stoffs beeinflusst.
 
Die Intention dieses Werkes weist auf die Erbauungsliteratur des 16. bis 18. Jahrhunderts voraus: »Ssefer mides« (1542), »Brantspigl« (1602), »Lew tow« (1620), »Ssimches ha-nefesch« (1707). Daneben verbreiteten sich aus mittelhochdeutschen und hebräischen Quellen geschöpfte Fabelliteratur (»Der alte Löwe«, bereits in der Cambridger Handschrift von 1382/83; »Fuchsfabeln«, um 1580; »Kuhbuch«, 1595; »Ssefer mescholim«, 1697) und lehrhafte Kleinepik historischen, legendarischen sowie anekdotischen Inhalts (»Maassebuch«, 1602). Hinzu kamen im 16./17. Jahrhundert. Bearbeitungen deutscher Prosabücher wie »Oktavian«, »Eulenspiegel«, »Magelone«, »Sieben weise Meister«, »Fortunatus«. Die größte Verbreitung fand jedoch die genuin jüdische Bibelparaphrase »Zene-rene« (Jakob (Jaakov) ben Jizchak (Jsaak) Aschkenasi, * um 1550, ✝ 1628). Im 17. Jahrhundert entstanden, vielleicht angeregt durch die deutschen Fastnachtsspiele, mit den Purimspielen erste jiddische Dramen, meist nach biblischen Themen und Motiven. Um dieselbe Zeit begannen Gesellschafts- und Zeitlieder, z. B. »Megiles Winz« (Vinzenz-Rolle), auf den Frankfurter Fettmilchaufstand 1612-16 bezogen, oft als Kontrafakturen deutsche Muster, zu entstehen. Um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert bezeugen die privaten Memoiren der Glückel von Hameln Einflüsse der älteren jiddischen Literatur.
 
 Moderne jiddische Literatur
 
Die Haskala (jüdische Aufklärung) bereitete Ende des 18. Jahrhunderts das Aufkommen einer sprachlich und inhaltlich zeitnahen Literatur vor, die nicht mehr nur für ein eingeschränktes Publikum bestimmt war und die schließlich zu einer der bedeutendsten Manifestationen jüdischer Kultur in Osteuropa und später v. a. in Nordamerika wurde. Mit sozialpädagogischer Intention bekämpften die Aufklärer besonders die mystisch gefärbte Volksfrömmigkeit (Chassidismus) sowie die daraus hervorgegangene legendarische und hagiographische Literatur über Charismatiker wie Baal Schem Tov (* um 1700, ✝ 1760) oder Nachman Bratzlawer (eigentlich Rabbi Mose ben Nachman, * um 1772, ✝ 1810). Die Kritik bediente sich besonders satirischer und grotesker Mittel (Israel Axenfeld, * 1787, ✝ 1866, Jizchak Joel Linezki, * 1839, ✝ 1916), auch in der Komödie (Salomon Ettinger, * um 1800, ✝ 1856). Eisick Meir Dicks didaktische Prosa leitete von der traditionellen moralisierenden Literatur zur aufklärerischen über; ähnlich verband Abraham Goldfaden in seinen Volksstücken überkommene Elemente mit rationalistischer Lehrhaftigkeit. Im sozialen Drama und v. a. mit seinen Romanen gelang dann Mendele Mojcher Sforim (Mendele Mocher Sefarim) eine realistische und kritische Darstellung des ostjüdischen Alltags. Weniger satirisch als humoristisch knüpfte hieran Scholem Alejchem an; er steigerte die Breitenwirkung der jiddischen Literatur v. a. mit seiner 1888 gegründeten Reihe »Jidische Folksbibliotek«, in der u. a. jiddischen Literatur Perez erstmals jiddisch publizierte. Die Vielschichtigkeit seiner Werke (Novelle, Lyrik, Drama) und seine ambivalente Einstellung zu Tradition und Moderne beeinflussten viele jüngere Autoren, u. a. C. N. Bialik und S. J. Agnon, die allerdings v. a. hebräisch schrieben. Zwar gewann die jiddische Literatur nach dem Ersten Weltkrieg an Vielfalt und Verbreitung, doch sprengte die Auseinandersetzung mit neuen sozialen und ökonomischen Lebensumständen in Europa wie in Amerika den bisherigen Rahmen. Teils wurde die sozialkritische Richtung (Morris Rosenfeld, * 1862, ✝ 1923; David Pinski, * 1872, ✝ 1959) fortgesetzt, teils formal der Anschluss an internationale Strömungen wie Impressionismus (D. Bergelson), Neoromantik (Der Nister, Pseudonym für Pinchas Kahanowitsch, * 1884, ✝ 1950; S. Asch), Expressionismus (Perez Markisch, * 1895, ✝ 1952) gesucht. In der amerikanisch-jiddischen Literatur reagierte die Gruppe »Di junge« (J. Opatoschu) auf die kulturellen Umbrüche mit zum Teil romantisch, zum Teil realistisch ausgerichteten Werken; die »Insichisten« (nach der Wochenschrift »In sich«, 1920-40) traten besonders mit subjektivistisch-kritischer Lyrik hervor (Jacob Glatstein, * 1896, ✝ 1971). Gleichzeitig nahm die Neigung zur Retroperspektive (Abraham Suzkever, * 1913) zu, die bis heute einen Grundzug der neueren jiddischen Literatur ausmacht. Verfolgung und Ausrottung durch die Nationalsozialisten spiegeln sich in der teils kämpferischen, teils elegische Gettoliteratur (Hirsch Glik, * 1922, ✝ 1944; Binem Heler, * 1908, J. Katzenelson).
 
In der Sowjetunion fanden 1936/37 und besonders 1948-52 viele jiddische Autoren in »Säuberungen« den Tod. Nachdem sie später rehabilitiert worden waren, konnten auch ihre Werke wieder erscheinen. Doch bis heute gibt es wenige jiddische Nachwuchsautoren. Kleinere literarische Zentren in Lateinamerika (besonders in Buenos Aires), Südafrika, Australien konnten sich auf Dauer nicht behaupten. Demgegenüber blieb in Nordamerika (besonders in New York) die jiddische Literatur lebendig (u. a. durch I. B. Singer). Seit 1949 (erste Ausgabe der Literaturzeitschrift »Di goldene keit«) wird Israel zunehmend zum Sammelbecken der neueren jiddischen Literatur (Literaturkreis »Jungisrael«; nach I. Manger benannter, jährlich vergebener Lyrikpreis).
 
 
M. Pines: Die Gesch. der jüdisch-dt. Literatur (a. d. Frz., 21922);
 M. Erik: Die Geschichte fun der yidischer literatur (Warschau 1928);
 S. Reisen: Leksikon fun der najer jidischer literatur (New York 1956-68);
 M. Waxman: A history of Jewish literature, 5 Bde. (ebd. 1960);
 H. Dinse: Die Entwicklung des jidd. Schrifttums im dt. Sprachgebiet (1974);
 H. Dinse: u. S. Liptzin: Einf. in die j. L. (1978);
 O. F. Best: Mameloschen. Jiddisch. Eine Sprache u. ihre Lit. (21988).

Universal-Lexikon. 2012.

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